Das bestellte Taxi kommt pünktlich. Es ist fünf Uhr in der Früh. Der Fahrer kommt aus dem Wagen und hilft mir beim Einladen meiner Koffer. Seine dunklen Augen kontrastieren mit der sandfarbenen Karosserie seines Taxis.
"Wollen Sie über die Autobahn oder durch die Stadt zum Flughafen fahren?", fragt er mich mit breitem, schwäbischen Akzent, den ich nicht erwartet hätte. Ein Einheimischer.
Ich wähle den Weg durch die Stadt, von der ich mich vor meiner sechsmonatigen Reise verabschieden will. "Lebewohl" will ich den unzähligen Baustellen zurufen, die in einem halben Jahr hoffentlich Geschichte sind.
Auf der Fahrerlizenz über dem Taximeter lese ich den Namen meines Chauffeurs: Ramitz Tanrikulu. Ohne Hektik steuert Ramitz Tanrikulu das Taxi um die in der Morgendämmerung liegende Bahnhofsbaustelle. Eine Gebetskette baumelt vom Rückspiegel, in den er immer wieder einen prüfenden Blick wirft, um den rückwärtigen Verkehr und seinen Fahrgast zu beobachten. Ein wahrhaft umsichtiger Fahrer. Bei der Ankunft am Flughafen lädt Ramitz Tanrikulu meine Koffer aus, während ich mich nach einem Gepäckwagen umsehe. Mein großzügiges Trinkgeld zaubert ein schönes Lächeln auf sein Gesicht.
Ich schiebe meinen Wagen mit den drei großen Gepäckstücken vom Taxi zum Eingang des Flughafens. Eine riesige Drehtür trennt mich dort vom Innern des Flughafengebäudes, in dem das Versprechen, überall hinzukommen, wie eine Verheißung klingt.
Die Drehtür läßt mich an eine auf die Achse gestellte gigantische Lostrommel denken. Behäbig dreht sich die schwere, mit viel Glas ausgebildete Tür und gibt mir eine der drei Kammern frei: Tritt ein, geh raus und reise. Statt einer solchen Verheißung erblicke ich die Werbung für einen günstigen Mietwagen in diesem kleinen, gläsernen Raum.
Vollständig eingeschlossen, kommt bei mir keine Beklemmung auf, die ich oft in kleinen Fahrstühlen verspüre. Hier kann ich aus meiner Glaskammer blicken. Hinter mir die Kälte des Dezemberwinters, unter mir die Marmorfliesen, die sich vom Eingang in die ausgedehnten Weiten der Flughallen erstrecken und vor mir die Glasscheibe meiner Drehtüre.
Ich muss den richtigen Augenblick abpassen, um meine Glückstrommel zu verlassen: Die vollkommene Übereinstimmung meines Glasvitrinenabschnittes mit dem Ausschnitt zum Eintritt in die Abflughalle. Die Drehgeschwindigkeit, die Größe der Kammern und die der Öffnung ist von klugen Technikern in langen Versuchen optimiert worden, so dass sie für den normalen Fluggast keine Probleme darstellen. Für gebrechliche oder gehbehinderte Passagiere gibt es einen Durchschlupf neben der Drehtüre, zu öffnen über einen großflächigen Taster.
Jetzt. Anschieben. Mit voller Konzentration stoße ich meinen rollenden Gepäckträger in die Öffnung und betrete die große Abflughalle, in der mich Stimmengewirr, Lautsprecherdurchsagen und Hektik empfangen.
Menschentauben stehen vor den Schaltern der Airlines, durch Absperrbänder in Schlangenform gebracht. Erwartungsfrohes Plappern schwappt mir entgegen, als ich mich mit meinem Gepäckwagen auf den Weg zum Schalter meiner Fluggesellschaft mache. Zentral in der Halle angeordnet, thront die nationale Fluggesellschaft meines Heimatlandes. Auch hier Menschenmassen, diszipliniert durch Absperrleinen stehen sie hintereinander, aufgereiht wie Perlen auf einer Kette. Die provisorisch eingerichteten Wartebereiche lassen keine Gruppenbildung zu. Meter um Meter schiebe ich mich vorwärts. Vor mir eine Familie mit Taucherausrüstung im Gepäck, hinter mir in Anzüge gekleidete Geschäftsmänner, die immerzu ihre Smartphones streicheln und betrachten, im festen Glauben, dadurch nichts Wichtiges zu verpassen.
Endlich bin ich an der Reihe. Ich lege meine Papiere auf den Schalter. Die blonde Check-In-Agentin nimmt sie mir ab und tippt meinen Namen in ihren PC. Ihre dunklen Augen und die Augenbrauen verraten, dass sie eine Farbtransition hinter sich gebracht hat. Ich wuchte meine Koffer auf das Band: 25 kg kommen zusammen. Gut, dass ich Business-Class fliege.
Der Wunsch
Sie schwang ihre langen Beine vom Beifahrersitz auf den staubigen, mit Geröll bedeckten Boden. An den Kakteenspitzen hingen winzige Tautropfen, die in der Morgensonne noch nicht verdampft waren.
Ihre Füße steckten in leichten Leinenturnschuhen, die bequem aussahen und beim Laufen auf asphaltierten Straßen auch bequem waren. Für die kurzen Spaziergänge, die sie bei früheren Ausflügen in den Saguaro Nationalpark gemacht hatte, war diese Art ausreichend gewesen. Aber 6 Stunden wandern, vier Liter Wasser, Obst, Brote, drei Müsliriegel einer Rolle Traubenzucker auf dem Rücken und einem Fernglas vor der Brust?
Wozu sollte das gut sein, hatte sie gefragt, als ihr Mann zusammen mit ihrem Bruder und dessen Frau den Vorschlag bei der Planung der gemeinsamen Reise in den Südwesten der USA gemacht hatte, ausgedehnte Wanderungen abseits von vorgegebenen Wegen zu machen.
Viermal hatte sie den Nationalpark schon besucht.
Viermal waren andere Männer an ihrer Seite.
Viermal trug sie leichte Leinenschuhe. Warum sollte sie das ändern?
"Es hat eine andere Qualität", hatte ihr Mann gesagt. Nichts weiter. Diese andere Qualität hatte sich bei ihr im Kopf festgesetzt und wurde auch nicht vertrieben beim Kauf der klobigen Wanderschuhe mit dicker Profilsohle, über die sie sich früher bei den Wandergruppen des Albvereins immer lustig gemacht hatte, wenn sie in Gruppen auf die S-Bahn warteten.
Noch nie hatte sie mit einem Mann Schuhe für sich gekauft und ihre Angst, der Verkäufer könnte belustigt auf ihre wanderbeschuhten Füße schauen, war von ihrem Mann ernst genommen worden. Sie hatte sich an der Seite ihres Mannes sicher gefühlt, trotz der ungewohnten Schuhe.
Es hat eine andere Qualität, klangen die Worte ihres Mannes in ihren Ohren. Sie zog langsam die Leinenschuhe aus. Sehr langsam. Sehr langsam zog sie dicke Wollsocken über ihre Baumwollstrümpfe, steckte erst den linken, dann den rechten Fuß in die unbenutzten Schuhe.
Elefantenfüße, dachte sie und schämte sich ein wenig. Dann, es ist ein langer, steiniger Weg. Sie nahm das Fernglas vom Beifahrersitz, schaute den Weg entlang, der sich bald in der kargen Landschaft verlor. Das Ferngals zeigte nur das, was sie auch unmittelbar vor sich sah. Was sie erwartete, wusste sie immer noch nicht. Nur, dass es eine andere Qualität haben wird.
Moselwein
Ich hatte nicht geglaubt, dass er es tun würde. Gefürchtet hatte ich es
lange. Als mich aber dann seine flache Hand mitten ins Gesicht traf,
durchzuckte mich ein stechender Schmerz. Sein Siegelring hinterließ eine
Schramme, die sich von meinem rechten Ohrläppchen zur Nasenwurzel zog.
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Jetzt nur nicht losheulen, dieser
Gedanke mischte sich in den Schmerz. Ich fasste an meine rechte Wange,
meine Hand wurde augenblicklich blutig.
"Wage es noch einmal mit diesem Mädchen auszugehen. Dann, dann ..."
Sein Satz brach ab wie ein toter Ast an einem kranken Baum unter einer zu
großen Schneelast.
" ... dann was?"
" ... schlage ich dich windelweich!"
Er machte mir schon lange keine Angst mehr. Seit Mutters Tod hatte er
zunehmend getrunken. Er drehte seinen Kopf in Richtung des Familienbildes:
Seine Erika, an ihrer Seite ihre Eltern vor dem verlorenen Weingut am
Mittellauf der Mosel, in der Nähe von Trier. Das Bild war mit einem
breiten Holzrahmen eingefasst, an einem Ende war er deutlich nach unten
verschoben, so als würde es das ganze Elend dieser Familie nicht mehr
tragen können. Es war kurz vor dem Bankrott des Weingutes aufgenommen. Die
Großeltern mussten es verkaufen, nachdem sie ihre besten Abnehmer geworden
waren.
"Du hast deine Schwiegereltern immer verachtet und doch bist du ihnen auf
ihrem Weg gefolgt. Nur bist du ihn nicht weitergegangen, denn Großmutter
hat die Familie mit einem Aushilfsjob in einer Wäscherei durchgebracht
und Großvater hat als Hausmeister gearbeitet, nachdem sie nach Trier
gezogen sind."
Mutter hatte sich nie was aus Alkohol gemacht. Oft hatte sie von ihrer
freudlosen Kindheit erzählt, nur mit eisernem Willen machte sie die
mittlere Reife, anschließend absolvierte sie eine Fachschule als
Kinderkrankenschwester. So eine musste so einen heiraten!
"Denkst du manchmal daran, was Mutter hierzu sagen würde?"
Bevor er wieder das geschliffene Moselglas greifen konnte, zog ich mit
einem heftigen Ruck das Tischtuch weg. Glas und Flasche stürzten in
seine Richtung und ergossen sich über seine Hose. Ein hässlicher Fleck
breitete sich darauf aus. Als könne er es nicht glauben, griff er sich in
den Schritt.
"Was hast du gemacht?"
"Wonach sieht es denn aus?"
"Du wagst es, dich in meiner Wohnung wie ein Wirtshausschläger
aufzuführen?"
Ich hielt ihm meine blutige Hand hin.
"Wer ist hier der Wirtshausschläger? Sag es mir! Wer betrinkt sich hier
wie in einer billigen Kneipe und schlägt seinen Sohn?"
An seinem verschatteten Blick sah ich, eine Diskussion war nutzlos. Dieser
Blick, der nach zwei oder drei Flaschen Wein die Wände unseres Wohnzimmers
nicht mehr scharf sah, mit dem er mich ansah als wäre ich ein
Schemenwesen. Doch er war selber das Schattenwesen. Vor Jahren hat er
sich auf den gleichen Weg gemacht wie seine Schwiegereltern. Nur hatte er
im Gegensatz zu ihnen noch keine Abzweigung gefunden. Wenn sie auch ihr
dörfliches Leben verloren hatten und ganz unten wieder anfangen mussten,
so hatte sie doch diese Abzweigung genommen. Ihr starker Glaube war ihnen
eine Stütze und eine Pilgerfahrt nach Lourdes ließ bei ihnen die
Gewissheit aufkommen, sie werden es schaffen. All das hatte mein Vater
nicht. Oft habe ich mich gefragt, wie diese Ehe meiner Eltern zustande
kam, das Mädchen aus katholischem Haus und der gottlose Mensch, wie mein
Großvater manchmal schimpfte, wenn mein Vater bei einer Familienfeier zu
viel getrunken hatte. "Moselchen", sagten sie dann zu ihm, "hat
Moselchen zu viel vom Mosel getrunken?"
Anfänglich überhörte mein Vater die Verballhornung seines Namens Motzek.
Aber das gelang ihm immer weniger, nachdem sich der Name auch in seinem
Bekanntenkreis mit zunehmendem Alkoholkonsum durchzusetzen begann.
Meine Wut legte sich so schnell wie sie gekommen war. Ich war das Opfer
seiner Schläge aber ich begriff, dass im Grunde genommen er das Opfer war.
Er war der Abhängige, ich der Unabhängige. Lange blickte ich auf meine
blutverschmierte Hand. Langsam trocknete es. Und so, wie es mehr und mehr
trocknete, verdampfte meine Wut wie eine Wasserlache in der Sonne.
"Vater, lassen wir das. Was soll es bringen, wenn wir uns gegenseitig
demütigen? Du hast zu viel getrunken aber steht es mir zu, über dein Leben
zu richten?"
Ich streckte ihm meine blutverschmierte Hand hin:
"Verzeih mir."
Als wäre ein Zauber verflogen, der ihn in seinen Bann gefesselt hielt,
fing er hemmungslos an zu weinen. Nie hatte ich ihn so weinen gesehen. Er
nahm meine Hand, zog mich zu sich herunter und nahm mich in den Arm:
"Schon gut, schon gut."
Worte, die ein Vater an sein kleines Kind richtet, nicht an einen
erwachsenen Sohn. Und doch, in diesem Moment fühlte ich mich wie ein
kleiner Junge, der von seinem Vater in den Arm genommen wird und der
glaubt, durch diese Geste wird alles wieder gut.
Ich tat, was man in so einem Moment tun kann: den hilflosen Menschen
ausziehen, waschen, ihm seinen Schlafanzug überstreifen und in sein Bett
legen. Er würde seinen Rausch ausschlafen, würde nicht wissen, wie er in
sein Bett gekommen ist und noch weniger, warum er einen Schlafanzug tragen
würde. Ich räumte die Flaschen weg, wusch das Glas ab und saugte die
Wohnung. Der Geruch von Wein hing noch in der Wohnung, als ich die Tür zum
Hausflur hinter mir zuzog.
Unter der Laterne
Lange hatte er unter der Laterne gestanden und auf Marlene gewartet. An
diesem Abend kam sie nicht, er konnte es sich nicht erklären. Zwei lange,
dunkle Wintermonate dauerte nun schon ihre Affäre. Beim ersten Mal hatte
sie ihn gefragt, wie spät es sei. Da seine Uhr kein phosphoreszierendes
Ziffernblatt besaß, trat er in den Schein der Laterne und antwortete
ihr:
"10 Uhr, eine halbe Stunde noch bis zur Sperrstunde. Genug Zeit, gemeinsam
ein Glas zu trinken."
Sie hatte ihn traurig angeschaut, ist aber dann doch mit ihm über die
Straße in die Eckkneipe "Zum Zapfhahn" gegangen. Eine vornehme Gegend in
der diese bürgerliche Kneipe lag, auf der Grenze zu einem Stadtteil, in
dem Künstler und Intellektuelle wohnten. Während der Weimarer Republik
hatten sich die Bewohner dieser beiden Viertel nicht um die standesgemäßen
Grenzen geschert. Kurt wohnte dicht hinter dem Zapfhahn, die Laterne
brachte fahles Licht in sein Arbeitszimmer, nun da er unter ihr stand, war
er hell beschienen. Ein kunstvoll geschmiedeter Ständer trug die Arme, an
denen zwei gasgetriebene Leuchtkörper hingen. Kurt musste bei diesem
Anblick immer an das Lied vom Lampenputzer denken, der, obgleich
Sozialdemokrat, lieber die Lampen vor den proletarischen Demonstranten
schützte, als sich in die Einheitsfront einzureihen, die die KPD formieren
wollte.
Wo Marlene nur blieb? Nach weiteren fünfzehn Minuten betrat er den
Zapfhahn, hängte seinen Hut an einen freien Haken und griff sich die
Tageszeitung, bestellte sich beim Kellner ein Bier und setzte sich an den
Tresen.
Beim Aufschlagen der Zeitung sah er direkt in ihre Augen: "Gesuchte
Anarchistin durch die Gestapo verhaftet" Der Artikel war reißerisch
aufgemacht: "Die seit mehreren Wochen polizeilich gesuchte Anarchistin M.
D. wurde gestern Abend in Berlin Zehlendorf gefasst. Die Gestapo hatte sie
im Wedding vermutet. Ihr wird zur Last gelegt, mit ihren Genossen einen
Anschlag auf die städtischen Gaswerke geplant zu haben. Die Gruppe wollte
weite Teile von Zehlendorf von der Gasversorgung abschneiden, um im Schutz
der Dunkelheit in Villen hochrangiger Parteifunktionäre ihre
staatfeindlichen Aktionen durchführen zu können."
Knut schlug schnell die Zeitung wieder zu, trank in langen, großen
Schlucken sein Bier, warf dem Kellner ein paar Münzen auf den Tresen und
trat hinaus auf die von der Laterne hell beleuchtete Straße. Er klappte
seinen Mantelkragen hoch, zog den Hut tief ins Gesicht aber beides nützte
nichts vor der aufsteigenden Kälte.
Foto: © Hans Martin Thill
Aura
Ich hätte Rita fast nicht erkannt, an ihrem Stand auf der Messe
Seele-Geist-Aura. Lange Gewänder verhüllten ihren gut gebauten Körper und
das ehemals wallende Haar hatte sie in eine Igelfrisur verwandelt. Drei
Jahre waren vergangen, seid ich meine frühere Freundin das letzte Mal
gesehen hatte.
Und seid wann verkaufte sie Steine und tibetanischen Heilschmuck?
Irgendwas musste mir entgangen sein. Ihren neuen Freund stellte sie mir
als Wild Spring vor. Mit aneinander gelegten Händen verbeugte er sich und
grüßt mit "Namaste". Seine Augen funkelten. Doch als er meinen Sticker
gegen den neuen Bahnhof entdeckte, verschleierte sich sein Blick, sein
Zeuslächeln erlosch. Warum ich meine Aura mit derartigen Aussagen
durchlöchere und warum ich mein Karmakonto in den Keller fahren will,
wollte er wissen. Nun ja, seit Jahren zieht dieses Projekt meine Energien
ab und ich fühle mich schon ganz schlapp, entgegnete ich ihm. Aber wat mut
dat mut, wie mein Freund Knut aus Hamburg zu sagen pflegt.
Wild Spring wandte sich um und griff nach zwei Räucherstäbchen, die er aus
einer sandgefüllten Schale zog. Er kann Chakren zurecht rücken und
Energieflüsse ordnen, flüsterte mir Rita zu. Hoch aufgerichtet, mit den
Räucherstäbchen in den Händen, begann Wild Spring mich "abzuscannen". Dann
nahm er meinen Gesinnungsbutton ab und warf ihn in eine Schale mit
dampfendem Weihrauch. Die Stelle, an der der Button gesessen hatte, strich
er mehrfach mit seinen feingliedrigen Händen glatt, tauchte sie in eine
Schale mit Öl und knetete anschließend meine Ohren. Er beendete die
Behandlung indem er an ihnen zog, wie es mein sadistischer Klassenlehrer
von der Realschule immer getan hatte. Besser?, fragte der weißgekleidete
Hüne. Kann ich nicht gerade sagen, meinte ich, eher, als wäre ich zwischen
Fahrstuhltüren eingeklemmt. Also setzte er die Behandlung fort, nahm zwei
Klangschalen am Band und stieß sie knapp über meinem Kopf aneinander.
Meine Blütenblätter des tausendblättrigen Lotus am Scheitel-Chakra
stellten sich abrupt auf, als rüsteten sie sich für einen
Chakren-Wettbewerb. Anschließend scannte er mich wieder mit
Räucherstäbchen, stellte sich hinter mich, umgriff mich mit seinen langen
Armen und ließ mich kurz über dem Boden in der Luft schweben. Mir blieb
durch den Druck auf den Brustkorb dieselbe kurz weg. Abrupt setzte er mich
ab. Mir war schlecht, mir war schwindelig. Hey, wollt ihr nicht lieber ein
Fahrgeschäft auf dem Wasen aufmachen? Dieser Satz führte offensichtlich zu
negativen Punkten auf meinem Karmakonto. Böse Blicke trafen mich.
By the way, du hattest doch so große Probleme mit deiner Mutter und deiner
Schwester. Rita zog mich am Jackett in die andere Ecke des Standes. Hier
lagen unbehauene Steine. Suche zwei aus, einen für deine Schwester und
einen für deine Mutter. O. k., deinen Vater kannst du auch in Stein
bringen. Spontan griff ich einen langen eckigen, gab ihn Rita mit den
Worten: meine Schwester. Nach meiner Mutter suchte ich länger, räumte eine
ganze Steinhalde ab, bis ich sie fand, gleich daneben lag mein Vater.
Beide gab ich Rita mit triumphierendem Lächeln.
Ich habe die Methode der Familienaufstellung nach Hellinger auf Stein
übertragen, erklärte sie mir. Puh, ich fing an zu schwitzen. Sag mal, hast
du was zu trinken? Sie gab mir eine Flöte und murmelte, bedien' dich am
Himalaja-Sekt, derweilen stelle ich die Steine. Ich griff mir die Flasche
aus dem Sekt-Kühler, trank gierig ein erstes Glas. Da sich das Stellen der
Steine als nicht trivial herausstellte, trank ich noch ein zweites Glas
und als sie fertig war und mit der Interpretation der Stellung begann, ein
drittes. Ich hatte es gerade ausgetrunken, als sie von den allgemeinen
Erklärungen zu den konkreten Einsichten überging. Diese konnte ich nur mit
einem vierten Glas ertragen:
Deine Mutter und deine Schwester haben sich immer gegen dich
ausgesprochen. Sie stehen zueinander und grenzen dich mit ihren Kanten
eindeutig aus. Spürst du das?
Ich kann deutlich spüren, meine Mutter ist meine Mutter und meine
Schwester hat mir als kleiner Junge immer wieder das Spielzeug weg
genommen. Aber so, wie sie meinen Vater anschauen, das stimmt nicht. Es
ist zu kalt. Er hat schon eine wichtige Rolle gespielt. Auch wenn er
häufig auf Dienstreisen war und uns vernachlässigt hat.
Rita begann die Steine nach meinen Ausführungen auszurichten, was aufgrund
ihrer Geometrie Fingerspitzengefühl und viel Geduld erforderte. Ich
schenkte mir ein weiteres Glas des Spitzensektes ein. Plötzlich tauchten
aus dem Nebel, den all die Räucherstäbchen in den Messehallen
verursachten, meine Mutter und meine Schwester auf. Ich weiß nicht, was
der Grund für den Schwindel war, der mich erfasste, der Alkohol auf
nüchternen Magen, der Patchouli-Duft oder war es die Nachwirkung der
Chakren-Behandlung. Alles drehte sich um mich, die von Rita gestellten
Steine fingen an zu tanzen und meine Beine verloren ihre
Standfestigkeit.
Rita klingelte mit ihren Himalajaglöckcken und binnen kurzer Zeit kamen
zwei Herren von der Sakralen Security herbei geeilt, die Rita aber sofort
wieder verscheuchte und nach jemandem von der HHF rief, der Himalaja
Health Force. Der kam auch bald, er stolperte beinahe über seine langen
Gewänder. Im Schlepp hatte er einen barfüßigen Chinesen mit einer
Reisschüssel auf dem Kopf. Mit einer Art Riechsalz brachte er mich auf die
Füße.
Moritz, ich bin dir ja so dankbar, bislang hatte ich keinen schlagenden
Beweis, dass das mit dem Steinaufstellen funktioniert. Du wirst sehen,
wenn du das nächste Mal mit deiner Schwester und deine Mutter zusammen
triffst, wird sich vieles geändert haben.
Rita, du bist wie die Handleserinnen auf dem Jahrmarkt. Nur über meine
Leiche werde ich meine Mutter wieder sehen. Sie ist seit einem Jahr
tot!
Nun waren es ihre Beine, die ihr den Dienst versagten. Der barfüßige
Chinese konnte gleich weiter machen. Ich schnappte mir den Rest des
Himalajasektes und sah zu, dass ich vom Gipfel zurück ins Tal kam.