Elsternest

Stuttgart liest ein Buch 2019 – Der Beginn

Arno Geiger im Gespräch mit Wolfgang Tischer
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Im großen Saal des Hospitalhofes wurde am 16.09.2019 die diesjährige Veranstaltungsreihe Stuttgart liest ein Buch unter der Schirmherrschaft des OB Fritz Kuhn eröffnet. Angefangen hatte alles 2001 in Chicago mit One Book, One Chicago. In Stuttgart gibt es dieses Format nun schon zum vierten Mal.

Frau Renninger, OB Fritz Kuhn, A. Braun (v.o.n.u)
Frau Renninger, OB Fritz Kuhn, A. Braun (v.o.n.u)

Der Platz im Parkett des Saals reicht nicht aus, die Empore muss geöffnet werden, um dem Ansturm Herr zu werden. Pfarrerin Monika Renninger, Leiterin des Evangelischen Bildungszentrums Hospitalhof Stuttgart, begrüßt die Gäste aufs herzlichste. Der Hospitalhof ist Mitorganisator dieses alle zwei Jahre stattfindenden Lesefestivals.

Das Schriftstellerhaus Stuttgart zieht wie immer die Fäden. Seine Geschäftsführerin Astrid Braun ist als Projektleiterin für diese Veranstaltungsreihe so etwas wie das dahinter steckende Master Mind. In ihrer Eröffnungsrede bedankt sie sich bei allen beteiligten literarischen Institutionen der Stadt Stuttgart, ohne deren aktive Mitarbeit eine solch umfangreiche Reihe nicht auf die Beine zu stellen wäre.

Arno Geiger im Gespräch mit Wolfgang Tischer

Wolfgang Tischer vom Vorstand des Schriftstellerhauses verwickelt den österreichischen Autor Arno Geiger in ein tiefsinniges Gespräch über seinen Roman Unter der Drachenwand und über seine Arbeit als Schriftsteller. Zehn Jahre hat Arno Geiger an diesem Roman gearbeitet.

„Ich hatte vor vielen, vielen Jahren so einen Zufallsfund, die Korrespondenz eines Lagers, Kinderlandverschickung, Schwarzindien am Mondsee – die Kinderbriefe, Elternbriefe, Behördenbriefe –, und das hat alles in Gang gesetzt, also ein Zufall. Das ist mir zugefallen, und die Qualität eines Stoffes bemisst sich vielleicht daran, wie sehr etwas in Gang setzt, emotional vor allem – gedanklich, aber auch die Vorstellungskraft. Das war Wumms.“

Das Lager Schwarzindien kommt schon im Roman Es geht uns gut vor, für das Arno Geiger 2005 den erstmals verliehenen Deutschen Buchpreis bekommen hat. Er wollte einen Familienroman schreiben und er wollte ein dreidimensionales Bild vom Krieg zeigen. Ein Krieg, der in jeden Raum eingedrungen ist, in jede Verästlung der Gesellschaft. Immer wieder hat er neue Aspekte entworfen. Wobei einige Figuren im Roman von Anfang an in seinem Kopf waren, zuerst die dreizehnjährige Nanni.

Wie fühlt sich Krieg an?

Ihn interessiert nicht, wie der Krieg von heute aus gesehen wird, sondern er wollte erzählen, was nur ein Roman erzählen kann: wie könnte sich das angefühlt haben im fünften, sechsten Kriegsjahr zu leben, also buchstäblich unter der Drachenwand. Und wie ergeht es einem Menschen, der sich „ins Bett des Teufels gelegt hat“ aus dem nur schwer wieder herauszufinden ist. Dazu hat er O-Töne gelesen, Briefe, Tagebücher, Tausende Seiten. Das war dann das Fundament für den Roman.

Den Roman fertig im Kopf, dann schreibt Arno Geiger ihn

Arno Geiger muss immer wissen, wie lang der Roman sein muss. Wenn das klar ist, schreibt er seinen Roman in chronologischer Reihenfolge. Als er das Gesamtbild in seinem Kopf ausgestaltet hatte, schrieb er das Buch innerhalb von nur fünf Monaten.

Beim Schreiben denkt Arno Geiger permanent über die Welt nach und über sich selber. Der Krieg hat eine unglaublich mobile Gesellschaft erzeugt, Familien waren auseinandergerissen und damals war das Schreiben eine ganz natürliche Form der Kommunikation.

Arno Geiger redet über seine Figuren, als wären es seine Bekannten und für ihn hat der Roman Wahrheitsansprüche. So verwundert es auch nicht, dass er in den Nachbemerkungen über das weitere Schicksal seiner Figuren schreibt, denn, so Geiger, der Leser hätte ein Recht darauf zu erfahren, was aus ihnen geworden ist.

Seine Frau, eine Kinderärztin, bekommt das Manuskript als erste zu lesen. Aber erst, wenn es aus Sicht von Arno Geiger fertig ist. „Ohne meine Frau wäre ich fast nichts“, gesteht der Autor und liefert damit einen wunderschönen Liebesbeweis.

An ein neues Buch denke er nicht, meint Arno Geiger, nachdem er den „Boden des Fasses erreicht“ hat, das aktuelle Buch ist immer das geliebteste.

„Der Krieg hatte ihn zur Seite geschleudert“

In einer kurzen Lesepassage wird uns von Omid Eftekhari einfühlsam der Einstieg in das Buch dargeboten. Der Krieg ist bereits in jeden Raum, jede Verästlung eingedrungen, da wird der Protagonist verwundet, reist zur Rekonvaleszenz von seiner Heimatstadt in die kleine Marktgemeinde Mondsee. Bei seinen Eltern ist er nicht zur Ruhe gekommen: „Ich halt’s hier nicht aus, ich muss weg.“ Der Mondsee im Salzkammergut liegt unter dem Bergmassiv der Drachenwand. Den Ort wählt er, weil er einen familiären Anknüpfungspunkt hat: sein Onkel leitet in dem Ort die Polizeistation. Der Onkel, wie auch sein Vater sind bekennende Nazis und bewundern den Führer, ganz im Gegenteil zu dem frontmüden Veit Kolbe.

Mit einfachen Mitteln ein Einzelschicksal dargestellt

Die Figurenspielerin Iris Meinhardt bewegt sich gewandt und synchron zu ihrer eigenen Projektion: Ihr Kollege, der Videokünstler Oliver Feigl, legt das Figurenspiel über projektierte Bilder und Filme, so dass ein ungewöhnlicher Sog entsteht und die Grenze zwischen Puppenspielerin, die in Kleidern aus den dreißiger Jahren gekleidet ist, der Puppe und den Bildern verschwindet. Die Künstler stellen in dieser eindrucksvollen Szenerie das Leben und den Tod der Schülerin Nanni dar.

Musikalische Umrahmung

Abgerundet wird der Abend durch das einfühlsame Zusammenspie des Gitarristen Jörn Bähr und dem Kontrabassisten Thorsten Meinhardt, die brasilianische Musik in jazzigem Gewandt spielen. Als das Publikum zum Schluss zum Signieren an den Tisch von Arno Geiger geht, spürt man so etwas wie Ergriffenheit, die dieser Abend ausgelöst hat.

Die Stuttgarter Stadtgesellschaft kann sich auf viele interessante Veranstaltungen im Zeitraum bis zum 28. September freuen.

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