Elsternest

Judith Schalansky liest ein Buch …, auch in der Stadtbibliothek

Judith Schalansky, Daniela Strigl
Judith Schalansky im Gespräch mit Daniela Strigl

 

Wer am 11.05.2015 der Einladung des Schriftstellerhauses folgte und in der Stadtbibliothek die Eröffnungsveranstaltung zu Stuttgart liest ein Buch erlebte, bekam einen allumfassenden Einblick in das Schaffen von Judith Schalansky.

Astrid Braun, Schriftstellerhaus
Astrid Braun, Geschäftsführerin Schriftstellerhaus
und Projektleiterin, eröffnet die Veranstaltung

14 Tage ein großes Lesefest

Die Geschäftsführerin des Schriftstellerhauses, Astrid Braun, erläuterte in ihrer Begrüßungsrede den Titel des Lesefestes. Es heißt eben nicht: Stuttgart liest ein Stuttgart-Buch. Daher muss es auch kein Stuttgarter Autor sein, der im Mittelpunkt des vierzehntägigen Lesefestes steht. Die Auswahl der Jury fiel auf die in Berlin lebende Autorin Judith Schalansky, die mit „Der Hals der Giraffe“ einen verstörenden Bildungsroman vorgelegt hat. Dieses Buch hat Facetten und spricht Themenkomplexe an, die zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Text einladen. Dies wird in den nächsten Veranstaltungen vielfältig geboten.

Das Vergnügen des gemeinsamen Lesens strich Isabel Fezer, Bürgermeisterin für Soziales, Jugend und Gesundheit der Stadt Stuttgart, heraus. Sie knüpfte dabei an eigene Erfahrungen aus ihrem Studium an, als sie den Zauberberg las. Isabel Fezer überbrachte Grüße des OB Fritz Kuhn. Die Stadt Stuttgart hat mit ihren Projektmitteln dieses Lesefest überhaupt möglich gemacht.
Im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin und –kritikerin Daniela Strigl wurde das Werk von Judith Schalansky in den Mittelpunkt gerückt. Sie ist nicht nur eine erfolgreiche Autorin sondern auch eine preisgekrönte Buchgestalterin. Für Judith Schalansky ist das Buch immer ein Gesamtkunstwerk. Deshalb gibt die studierte Kommunikationsdesignerin die Gestaltung ihrer Bücher auch nicht in fremde Hände.

Isabel Fezer
Isabel Fezer begrüßt die Autorin und die Anwesenden
im Namen der Stadt Stuttgart

Die Haptik und die gelungene Typografie des Buches in der gebundenen Fassung lässt den Leser den Roman gerne in die Hand nehmen. Eingebunden mit grobem, grauem Leinen, rutschen die Finger nicht ab. Ein Schutzumschlag wird überflüssig. Dadurch vermittelt es den Eindruck, sich selbst ausreichend schützen zu können. Die Gestaltung der Taschenbuchausgaben hat die Autorin ebenso sorgfältig übernommen. Ihr erstes Werk war eine Liebeserklärung an die Frakturschrift: „Fraktur mon Amour“. Dafür, wie auch für „Der Hals der Giraffe“, hat sie zahlreiche Designpreise erhalten. Die Zeichnungen im Buch führen immer wieder zum Unterrichtsfach der Protagonistin Inge Lohmark: Biologie. Sie unterrichtet am Charles-Darwin-Gymnasium in einer kleinen Stadt im vorpommerschen Hinterland. Es ist ein Landstrich, der vor dem Ausverkauf steht, ohne Zukunft, denn die Menschen ziehen weg aus der ostdeutschen Provinz und damit verliert die Schule ihre Schüler. Judith Schalansky kennt, wovon sie schreibt. Sie ist als Kind eines Lehrers und einer Lehrerin in Greifswald geboren und zur Schule gegangen. Obwohl sie nicht Lehrerin geworden ist, verfügt sie doch über einen „missionarischen Eifer“, wie sie im Gespräch mit Daniala Strigl zugibt. Der Autorin ist wichtig, ihre Ansichten dem Publikum zu vermitteln, durch den Text wie auch durch die Gestaltung. Dabei darf man ihr nicht unterstellen, die Ich-Erzählerin Inge Lohmark sei ihr alter Ego. Ganz im Gegenteil. Umso erstaunlicher, wie sie den Erzählton in dem Roman durchhält und dem Leser die Hauptperson näher bringt. Sympathie wird man für Inge Lohmark nicht aufbringen, aber Verständnis für ein Leben der Brüche und der Abbrüche.

Lesung aus "Der Hals der Giraffe"
Judith Schalansky liest aus „Der Hals der Giraffe“

Judith Schalansky ist nicht Inge Lohmark

Als Judith Schalansky dann aus dem Buch las, sprach sie mit fremder Stimme. Sie schlüpfte mit ihrem Sprachduktus ganz in die Person hinein, die der Roman so wunderbar schildert. Diese Sport- und Biologielehrerin ist verblendet und hartherzig, das wird schon auf den ersten Seiten des Romans deutlich. Aber sie hat eine Leidenschaft für die Natur und eine große Liebe zu ihrem Fach. Beides hat sie herüber gerettet aus der DDR, in der sie auch nicht angepasst war, Stammbäume von Adelsgeschlechtern hat sie zeichnen lassen, um daran die Vererbungslehre zu verdeutlichen. Biologie ist ihre Ersatzreligion. Das Scheitern der „eigenen Brutpflege“ hat sie innerlich verhärten lassen. Normalerweise wird in einem „Bildungsroman“ (so der Untertitel des Buches) der Protagonist zu einem „anderen Menschen“. Hier steht das Scheitern im Mittelpunkt, ein Scheitern, das den Leser verstört und ihn dadurch verändert. „Wichtig ist das, was uns berührt“, so die Autorin. Es drängt sich beim Lesen dieses Romans, der so viel über die Natur verrät, die Frage auf, was den Menschen veranlasst, sich als Krone der Schöpfung zu sehen. Judith Schalansky empfindet es als schwierig, immerzu Entscheidungen treffen zu müssen. Die instinktgesteuerten Tiere haben es da einfacher. Die Natur sei weder gut noch schlecht. So bleibt es auch ein Rätsel, ob die „Krone der Schöpfung“ schön ist. Immerhin haben wir durch die Evolution den aufrechten Gang bekommen. Somit haben wir eine Vorder- und Rückseite. Aber was ist mit unserer Rückseite, die wir mit unserem Augensinn nicht direkt betrachten können. Ist sie schön?
Das kluge und angeregte Gespräch zwischen der Literaturkritikerin und der Autorin ließ viele Fragen offen, die die Stuttgarter sich in den nächsten Tagen in vielen Veranstaltungen rund um den „Hals der Giraffe“ stellen können. Einen ersten Ansatz zur Auseinandersetzung mit dem Thema Natur und Fantasie machten die Gesangstudierenden im Studium für Stimmkunst und Neues Musiktheater der Musikhochschule Stuttgart: Sie boten Ausschnitte aus dem „Klangbuch der imaginären Wesen“ von Mario Verandi im kathedralenartigen Raum, dem Herzstück der Bibliothek, dar. Als das Büffet geöffnet wurde, hatten die Gästen der Eröffnungsveranstaltung zu „Stuttgart liest ein Buch“ Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Nur die Autorin hatte noch zu tun: Liebevoll signierte sie ihre Bücher, verzierte ihre Widmungen mit allerlei Stempeln und gab somit jedem Exemplar einen individuellen Anstrich.

Heute, am 12. Mai 2015, ist Judith Schalansky zu Gast im Literaturhaus Stuttgart.

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